06
Interview: Brückenstrompreis

Deutschland zum
Standortvorteil machen

Seit langer Zeit dreht sich die industriepolitische Debatte um die Frage, wie insbesondere den energieintensiven Branchen eine wettbewerbsfähige Zukunft hierzulande ermöglicht werden kann. Die bislang ergebnislosen Diskussionen hierüber treiben sowohl Industrievertreter*innen als auch die Gewerkschaften um.

Ein Gespräch mit WVMetalle-Hauptgeschäftsführerin Franziska Erdle und IG-Metall-Gewerkschaftssekretär Manuel Bloemers über wichtige Weichenstellungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland:

„Wir müssen wett­bewerbs­fähig bleiben.“

Gewerkschaftssekretär der IG Metall
Herr Bloemers, Sie als Gewerkschaftssekretär der IG Metall haben einen guten Einblick in zahlreiche Unternehmen der NE-Metallbranche und sind nahe an den Betriebsräten und Beschäftigten dran. Wie ist die Stimmung bei den Mitarbeitenden momentan?

Manuel Bloemers: Wir sehen, dass gerade in den energieintensiven Bereichen, die Produktionskapazitäten deutlich gedrosselt und auch teilweise komplett eingestellt sind. Das beobachten wir schon mit großer Sorge – auch branchenübergreifend. Neben einer hohen Inflation kommen jetzt noch Sorgen der Mitarbeitenden um eine Zukunftsperspektive hinzu. Seit über einem Jahr gehen Gewerkschaften immer wieder in gemeinsamen Aktionen auf die Barrikaden, für wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen und einen Brückenstrompreis für energieintensive Unternehmen: Wir haben jüngst unsere bundesweite Aktionswoche vom 25. bis 29. September beendet, an der wieder Tausende teilgenommen haben. Und Anfang des Jahres gab es einen bundesweiten Aktionstag am 9. März gemeinsam mit der IGBCE und am 24. Mai in der Gießereiindustrie. Unseren Kolleginnen und Kollegen ist die Dringlichkeit klar, ob das allen in Berlin bewusst ist, weiß ich nicht.

Frau Erdle, es vergeht fast kein Tag, an dem nicht auch die Industrieverbände der energieintensiven Branchen sich lautstark zu Wort melden und Entlastungen fordern. Jammert die Industrie zu viel, wie ihr zuweilen vorgeworfen wird?

Franziska Erdle: Die Bundesregierung muss ja wissen, wie es in den Branchen aussieht, um dann strategisch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir führen damit das Interesse der Bundesregierung und das Interesse der Branche zusammen, gute strategische Entscheidungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu treffen. Und wenn die Unternehmen in unserer Branche ihre Anlagen aufgrund der hohen Strompreise drosseln oder ganz stilllegen und die Produktion aufgeben, dann müssen wir das benennen. Das ist die Realität und es bringt nichts, darüber nicht zu reden.

An der Situation gibt es momentan nichts zu beschönigen. In der Nichteisen-Metallindustrie laufen viele Produktionsprozesse, die sehr stromintensiv sind. D.h. diese Prozesse sind bereits weitestgehend dekarbonisiert. Das sind die Front Runner der Dekarbonisierung und die brauchen jetzt Unterstützung. Wir erleben gerade die Folgen einer Klimapolitik und Energiepolitik, die primär auf CO2-Reduzierung gesetzt und dabei das Ziel einer sicheren und bezahlbaren Stromversorgung zunehmend hintenangestellt hat. Die Transformation der Energieversorgung geht nicht zum Nulltarif und das sehen wir jetzt. Wir brauchen also ein Instrument für die stromintensive Industrie und dabei meine ich explizit auch die mittelständische stromintensive Industrie, um für die Unternehmen Abhilfe zu schaffen und Carbon Leakage zu verhindern. Außerdem muss man auch an diejenigen Unternehmen denken, die sich jetzt auf den Weg der Transformation machen und Prozesse auf Strom umstellen. Bei den derzeitigen Strompreisen sehe ich da keinerlei Anreize, diesen Schritt zu gehen.

Und warum können diese energieintensiven Produkte nicht in Ländern mit hierfür günstigeren Rahmenbedingungen hergestellt werden? Macht das nicht ökonomisch mehr Sinn?

Franziska Erdle: Ich halte die Argumentation, dass man die energieintensiven Produkte ja einfach aus dem Ausland besorgen kann, für äußerst gefährlich. Das ist viel zu kurz gesprungen. Es wird völlig übersehen, dass wir uns dadurch massiv abhängig machen, gerade bei den Werkstoffen, die wir für die Transformation brauchen. In unserer Branche haben wir da schon leidvolle Erfahrungen machen müssen beim Beispiel Magnesium: Die Produktion in Europa wurde aufgrund der hohen Energiekosten schon um die Jahrtausendwende aufgegeben und heute sind wir zu 95 Prozent abhängig von China. Als China vor kurzem angekündigt hat, nur noch für den eigenen Bedarf zu produzieren, waren wir kurz davor, dass in Europa die Bänder stillstehen.

Wenn wir die energieintensive Produktion aus Deutschland abwandern lassen, nehmen wir nicht nur den Mitarbeitenden ihre Zukunftsperspektive und riskieren ihre Arbeitsplätze, wie Manuel Bloemers richtig sagt, sondern wir verlieren auch Wertschöpfung und wir vergrößern unsere Abhängigkeiten von Staaten, die eine ganz eigene Agenda fahren und ein ganz eigenes Interesse haben. Ich glaube nicht, dass das die Transformation ist, die wir wollen.

Die Koalitionäre sind sich uneins in Sachen Brückenstrompreis. Der Bundesfinanzminister sieht dafür keine finanziellen Spielräume. Warum ist eine Umsetzung trotz Haushaltsdisziplin wichtig?

Franziska Erdle: Auch bei uns im Verband gab es eine lange und intensive, ja mitunter kontroverse Debatte, ob wir einen Brückenstrompreis fordern sollen. Denn am Ende lindert er nur die Symptome und wirkt nicht der Ursache der gestiegenen Strompreise entgegen. Und die liegt mitnichten nur in den Folgen des Angriffskrieges auf die Ukraine. Die Strompreise sind schon vor dem Überfall Russlands auf einem nicht wettbewerbsfähigen Niveau gewesen. Die Ursache löst man nur, indem Kapazitäten ans Netz gebracht werden, die CO2-frei und zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren. Diese Aufgabe muss die Bundesregierung lösen. Allerdings, und das gehört auch zur Wahrheit, wird die Wirkung solcher Entscheidungen nur langfristig spürbar sein. Unsere Unternehmen haben aber jetzt, heute beziehungsweise schon seit einigen Monaten die Produktion gedrosselt und auch unternehmerische Entscheidungen getroffen, diese zum Teil nicht wieder aufzunehmen. Wenn wir weitere Entscheidungen in diese Richtung verhindern wollen, brauchen wir ein kurzfristig wirksames Instrument, um eben eine Brücke zu schlagen, bis die Wirkung neuer Erzeugungskapazitäten auf den Preis spürbar ist. 

Deswegen haben wir uns als Verband dazu entschieden, uns für das Instrument des Brückenstrompreises einzusetzen. Wir waren ja der erste Verband, der schon vor drei Jahren dazu unterwegs war, und haben dazu im letzten Jahr eine große Kampagne gemacht inkl. Postkarten- und Sticker-Aktion für einen Brückenstrompreis, sogar mit einer Petition auf Change.org. Diesen Sommer hat sich dann eine Allianz geformt, wie sie es meines Wissens in dieser Breite noch nicht gab. Die energieintensiven Verbände haben sich gemeinsam mit der IG Metall, der IGBCE und dem DGB zu der „Allianz pro Brückenstrompreis“ zusammengeschlossen, um der Forderung nach einem Brückenstrompreis – wie er inzwischen mehrheitlich benannt wird – Nachdruck zu verleihen.

„An der Situation gibt es momentan nichts zu beschönigen.“

Hauptgeschäftsführerin der WVMetalle

Manuel Bloemers: Man darf Haushaltsdisziplin nicht mit Investitionen in Transformation verwechseln. Wir müssen das jetzt angehen, und ja das wird Geld kosten. Aber, das wäre nicht nur konsequent, um die Transformation voranzubringen, sondern auch ein Baustein im De-Risking in den Lieferketten bei sich verschärfenden Abhängigkeiten. Und finanzielle Spielräume sind ja da. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds wurde doch genau dafür ins Leben gerufen, und hier stehen noch Gelder zur Verfügung.

Wenn wir von fairen Wettbewerbsbedingungen sprechen und einen Blick in die europäischen Nachbarländer werfen: Was machen die anders oder besser? 

Franziska Erdle: Ein Blick zu unseren französischen Nachbarn zeigt, dass es geht: Frankreich stellt seiner Industrie Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung. Ich kann deswegen auch die Diskussion auf europäischer Ebene nicht nachvollziehen, dass Deutschland für seine Unternehmen eine Sonderrolle haben möchte. Im Grunde wollen wir hier nur zu unseren europäischen Freunden aufschließen. Genauso halte ich es für falsch, den Franzosen jetzt politisch einen Vorwurf zu machen. Ihr Interesse, industrielle Kapazitäten im Land zu halten, ist durchaus berechtigt.

„Frankreich stellt seiner Industrie Strom zu wett­bewerbs­fähigen Preisen zur Verfügung.“

Hauptgeschäftsführerin der WVMetalle

Manuel Bloemers: Deutschland hat seine Antworten gefunden, unsere europäischen Nachbarn diskutieren andere. Man kann hier viel über das Vergangene sprechen, aber die Milch ist verschüttet. Die Probleme sind jetzt da, aber lösen können wir das nur über einen raschen Ausbau der erneuerbaren Energien und den Ausbau der Netzinfrastruktur, insbesondere betrifft das die großen europäischen Verteilnetze. Welche Rolle hier der Staat spielt und was Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge bei diesem Thema ist, muss vielleicht auch nochmal neu diskutiert werden.

Wenn Sie beiden die Debatte um Energiekosten so verfolgen: Mit welchem Missverständnis möchten Sie gerne aufräumen? 

Franziska Erdle: Ich möchte da mal auf zwei Dinge eingehen. Zum einen der Vorwurf, dass mit einem Brückenstrompreis fossil betriebene Geschäftsmodelle auf Staatskosten verlängert werden sollen. Gabor Steingart hat das in seinem Morning Briefing geschrieben. Das ist wirklich absurd, denn wir reden hier ja über Strom. Und die Elektrifizierung, also die Umstellung von fossil betriebenen Prozessen auf Strom, ist eine Hauptsäule der Transformation. Der Brückenstrompreis ist also eine Unterstützung in Richtung Zukunft und nicht in Richtung Vergangenheit.

Zum anderen hören wir, dass die Industrie flexibel sein muss. Dann könnte man eine Hütte ja einfach wieder anschalten bei Bedarf. Das geht völlig an der Realität vorbei. Das Hochfahren einer Aluminiumhütte dauert ein Jahr. Das macht doch niemand, wenn er keine verlässliche Planungsgrundlage für mehrere Jahre hat.

„Der Brücken­strom­preis ist  eine Unter­stützung in Richtung Zukunft“

Hauptgeschäftsführerin der WVMetalle

„Wir stehen beim Thema De­karbo­ni­sie­rung erst am Anfang “

Gewerkschaftssekretär der IG Metall

Manuel Bloemers: Ich würde mal etwas globaler antworten wollen, nämlich dass vielmals noch nicht ehrlich kommuniziert ist, dass wir beim Thema Dekarbonisierung erst am Anfang stehen. Vielen wird immer ganz warm ums Herz, wenn sie hören „über die Hälfte des Stroms in 2022 mit Wind und Sonne produziert“. Da entsteht oft der Eindruck: Na, die Hälfte haben wir ja schon! Was nicht stimmt, denn wir müssen ja den gesamten Primärenergiebedarf umstellen. Und da machen Wind und Sonne derzeit nur ca. 17 Prozent aus. Also 83 Prozent des Weges liegt noch vor uns. Das ist jetzt sehr holzschnittartig, aber gibt einem ein ganz passendes Gefühl für die momentane Lage. 

Ich habe mal ein treffendes Zitat gehört: „Die Dekarbonisierung wird so teuer wie die Wiedervereinigung.“ Und auch wenn es berechtigte Kritik an manchen Stellen gibt, war es der politische Wille, der es ermöglicht hat, dieses große Projekt erfolgreich zu stemmen. Es war ein unglaublicher Akt nationaler Solidarität. Es war wichtig und richtig und gut investiert. Und so sehe ich das hier auch. Der politische Wille muss das, was wir wollen, ermöglichen. Das ist die Basis, auf der dann künftiger Erfolg entsteht.

Eine weitere Debatte schließt sich daran oft an: Viele Privatpersonen zahlen ein Zigfaches und auch jenseits eines Brückenstrompreises zahlen Großverbraucher deutlich weniger. Ist das gerechtfertigt und droht dann nicht eine Dauersubvention?

Franziska Erdle: Die Bürger sind auch Teil unserer Unternehmen, etwa als Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, etc.. Deswegen ist das, was wir fordern, zumindest indirekt auch in ihrem Interesse. Selbstverständlich darf der Bürger nicht über Gebühr belastet werden – darüber muss man sich an geeigneter Stelle auch verständigen. Das ist aber weniger unsere Aufgabe als Industrievertreter.

Wir nehmen sehr deutlich wahr, dass es in der Bevölkerung grundsätzlich einen großen Konsens gibt, dass die Dekarbonisierung nicht durch Deindustrialisierung erreicht werden soll. Deswegen geht es darum, die Preisspitzen der kommenden Jahre zu überbrücken, um zu verhindern, dass Unternehmen, deren Grundstoffe wir dringend für sämtliche Megatrends wie Dekarbonisierung, Elektromobilisierung, Digitalisierung, etc. benötigen, Deutschland endgültig den Rücken kehren. Dauerhafte Subventionen sind auch aus unserer Sicht nicht das Mittel der Wahl. Mittelfristig muss das Angebot in der Erzeugungslandschaft so ausgeweitet werden, dass wir in Deutschland und Europa wieder ein wettbewerbsfähiges Preisniveau erreichen. Da sehe ich ganz klar die Verantwortung bei der Politik – auf allen Ebenen, von der Bundesregierung bis hinunter auf die kommunale Ebene.

Manuel Bloemers: Eine Dauersubvention wollen wir nicht und haben wir nie gefordert. Aber wenn Politik, was ja richtig ist, den Weg in die Dekarbonisierung politisch beschlossen hat, müssen die Unternehmen auch die Chance bekommen, sich überhaupt erstmal auf den Weg zu machen. Und Politik muss auch dafür sorgen, dass die grüne Energie zur Verfügung steht. 

Betriebe, die im internationalen Wettbewerb stehen, und daher mithalten müssen mit Regionen, in denen Energie entweder politisch verbilligt wird oder z.B. durch nichtvorhandene CO2-Kosten niedriger sind, haben keine Ausweichmöglichkeit. Und auch wenn wir über Produktivität, gute geografische Lage und Wettschöpfungsnetzwerke einige finanzielle Nachteile ausgleichen können, kommen wir an Grenzen, wenn die Kostenfaktoren für Energie um das Zwei-, Drei- oder X-fache höher liegen. Die Unternehmen und Verbände tun aber gut daran, sich das Problem Energiekosten im privaten Bereich bewusst zu machen. Der DGB hat just ein Konzept vorgelegt, in dem skizziert wird, wie man beide Sachen ausgewogen angehen kann. Hilfe für die energieintensive Industrie, hinter der wir stehen und die kommen muss, aber auch Entlastungen in der Breite. Wir brauchen am Ende Akzeptanz.

Franziska Erdle Hauptgeschäftsführerin der WVMetalle
Manuel Bloemers Gewerkschaftssekretär der IG Metall

Veröffentlicht im November 2023